Neue Aufgaben der Schule

Schule: Veränderte Lebensbedingungen – neue Aufgaben?

Verein Schul-Hof – was uns bewegt. Ein Gesichtspunkt.

von Ulrike Mackay, Präsidentin Verein Schul-Hof

In der Zeit, als Schulbildung Allgemeingut wurde und die Schulpflicht eingeführt wurde, war die Aufgabe der Schule eindeutig: Die Kulturtechniken (Lesen, Schreiben, Rechnen…) lehren und Kenntnisse, Wissen vermitteln. Wenn wir darauf schauen, wie grundlegend sich in den letzten Jahrzehnten, ja insbesondere in den letzten Jahren, das Umfeld und die Bedingungen ändern, in denen Kinder heute aufwachsen, stellt sich die Frage: In welche Richtung muss Schule sich entwickeln, wenn sie sinnvoll und effektiv zu einer gesunden Entwicklung junger Menschen beitragen will?

Was zu einem ganz grossen Teil verloren gegangen ist, ist der selbstverständliche Kontakt, die Berührung mit konkreter, greifbarer, lebendiger und durchschaubarer Wirklichkeit. Um nur einiges zu nennen, was als völlig Unverständliches in der Wahrnehmung eines kleinen Kindes in seiner Umgebung geschieht: Ein Knopfdruck – es wird hell. Drehen an einem andern Knopf – es wird warm im Zimmer. Etwas was man trinken kann, kommt meist aus einem Plastikbehälter. Der stand vorher in einem riesigen Laden. Wie kam er dahin? Wie kam das Weisse in den Behälter? Wo gehen Vater und Mutter hin, während man in einem andern Haus mit vielen Kindern und andern Menschen ist? Wieso kann sich das Auto bewegen? – Endlos könnte man diese Reihe fortsetzen. Sobald ein Computer zugänglich ist, eröffnet sich ein weiterer – riesiger – Bereich von Scheinwelten, in denen sich so mancher mehrere Stunden täglich aufhält.

Ich will nicht beklagen, dass die Entwicklung so gegangen ist, aber die Frage stellen: Was können wir tun, um Gegengewicht zu schaffen? Wahrscheinlich wird Schule mehr und mehr die Aufgabe übernehmen müssen, Kindern Beziehung zu ermöglichen – Beziehung zur Realität, Beziehung zur Natur, zum Lebendigen, zum Leben, zum eigenen Leib, zu sich selbst – und damit auch zu andern. Und Beziehungen erleben heisst doch auch: Zusammenhänge erleben.

Hoffnung, Mut, Entschlossenheit… aktiv und sinnvoll an der eigenen Lebensumgebung mitgestalten…. Verbindung und Zugehörigkeit… – Sind dies nicht ganz tief in uns verankerte Lebensbedürfnisse? So tief, dass manche sie vielleicht schon ganz und gar vergessen haben? Und vielleicht nur noch Zerrbilder davon in ihnen leben, weil sie Hoffnung und Mut verloren haben, dass ihr Beitrag wichtig sein könnte, dass sie wertvoll sind, dass sie ihre Kräfte sinnvoll, autonom und zielgerichtet einsetzen können? Und da sie vielleicht nie erlebt haben, dass sie so, wie sie sind, akzeptiertes Mitglied einer Menschengemeinschaft sind, werden sie vielleicht Glied einer Gruppe, die durch Macht, Gehorsam und gemeinsame Feindbilder zusammenhält und eine Spur von Zerstörung und Gewalt hinterlässt – vielleicht um zu zeigen (und auch selbst zu erleben!), dass es sie gibt…

Wie können wir beitragen, dass Kinder und Jugendliche ein gegründetes Selbstvertrauen mit in ihr Leben nehmen?

Durch mehrere Jahre hindurch haben wir in einer Gesprächsgruppe an Fragen zum Umgehen mit Aggression und Gewalt gearbeitet. Dabei haben wir auch untersucht, welche Kraft es ist, die uns selber in explosiven Augenblicken hilft, nicht aus der Haut zu fahren, sondern in Besonnenheit reagieren zu können, und haben einander unsere Erfahrungen mitgeteilt. Immer wieder tauchte „Selbstvertrauen“ auf; Vertrauen, dass das Urteil eines andern meinen Wert nicht mindern kann, Vertrauen, dass wir andere Wege finden können als die der Gewalt. Und es zeigte sich, dass Selbstvertrauen oft seine Basis hatte in starken, konkreten, existenziellen Erlebnissen – und in dem Vertrauen, das andere uns entgegen brachten.

Wie kann Schule Kindern starke, ursprüngliche Erlebnisse und Erfahrungen verschaffen, die diese Grundbedürfnisse nach Verbindung und Zugehörigkeit, nach sinnvollem Mitgestalten, Autonomie und Selbstwert zu erfüllen helfen?

Stellen Sie sich eine Klasse vor, z.B eine 1., 2. oder 3. Klasse, die einen Bauernhof besucht. Viel gibt es da zu erleben, zu sehen, zu riechen ( der Mist, das Heu, die Erde…), zu fühlen (das weiche Fell, die Wärme, das Stroh, der klebrige Teig), auch zu hören: die Stimmen der Tiere, des Bauern, die Glöckchen, das Knistern des Feuers. Und zu schmecken: die noch warme Milch, das Brot, Früchte, ein Stückchen Rübe… Und natürlich gibt es da auch viel zu lernen, oder?

Was aber würde geschehen, wenn die Klasse ein oder zwei Mal im Monat käme? Der Weg dorthin wird vertrauter (und dadurch kürzer!). Man begrüsst Bekanntes. Vorgänge wiederholen sich. Tätigkeiten wiederholen sich. Man weiss schon, wo das Heu für die Kühe ist, wo das Hühnerfutter, wo die Geräte stehen… und doch ist es jedes Mal neu: das Wetter anders, das Licht, die Wärme; die Pflanzen sind gewachsen, die Beikräuter auch, auch die Zähne vom Kälbchen, das vielleicht immer noch an meinem Finger lutschen möchte… Jedes Mal gibt es Gleiches und Neues zu tun. Die Kirschen sind reif! Die Linden blühen! Die Kartoffeln werden aus der Erde geholt, die Äpfel aufgesammelt, Apfelmus gekocht…

Aus Norwegen, wo solches schon vielfach im ganzen Land Realität geworden ist, wurde berichtet, dass die Kinder schon nach dem dritten Mal anfangen, sich mitverantwortlich zu fühlen. Sie verbinden sich mit ihrer Tätigkeit, mit dem „Fleckchen Erde“, mit den Tieren, mit dem Bauern. Man ist nicht zu Gast: man ist Mitarbeiter.

Und weiter: Im nächsten Jahr hat sich der eigene Blickwinkel verändert, man ist ein bisschen grösser geworden – und stärker! -, es gibt viel Vertrautes, aber immer wieder auch ganz Neues. Zusammenhänge werden sichtbar, fühlbar.

Stellen Sie sich vor, dies zieht sich durch die ganze Schulzeit hin. Jedes Jahr öffnen und erweitern neue Gesichtspunkte, neue Fragestellungen, neue Schwerpunkte den vertrauten Raum. Vielleicht übernehmen einige Zehntklässler die Verantwortung für den Hofladen? Baut man für die Zwölftklass(oder Matur-)arbeit einen Stall, eine Tränke? Fasst eine Quelle?

Ich bin zutiefst überzeugt, dass Schule einen starken und wirksamen Beitrag zur Prävention im weitesten Sinne leisten wird, wenn sie Kindern eine existenzielle, fortdauernde Erfahrung von Verbindung und Zugehörigkeit ermöglicht durch eine kontinuierliche, fürsorgliche, verantwortliche Arbeit mit und in der Natur.

Zuletzt aktualisiert am 4. Mai 2010